Bekanntermaßen hat die Sterneküche so ihre kurzfristigen Moden. Aktuell kann jedoch getrost von einem dauerhaften Umbruch gesprochen worden. Wenn nämlich Sterne, Hauben und Punkte längst nicht mehr alles bedeuten, die vermeintlich besten Restaurants schließen und Spitzenköche ganz andere Ansprüche als bisher haben, stellt sich unweigerlich die Frage: Fine Dining, quo vadis?
Ganz allgemein und über Ländergrenzen hinweg beobachtet: Es geht in der Spitzengastronomie bereits seit geraumer Zeit nicht mehr so steif wie früher zu. Das liegt zum einen an den Gästen, die sich von der Küche, Atmosphäre und Philosophie eines Restaurants heute schlichtweg anderes erwarten. Es sind aber auch die Protagonisten selbst, die vielfach keine Lust mehr auf das straffe Korsett der Sterneküche haben und dafür umso mehr Motivation verspüren, sich mit neuen Konzepten zu verwirklichen. Denn die Kochschürze wird nur selten komplett an den Nagel gehängt – zu groß ist die Leidenschaft, auch weiterhin mit herausragenden kulinarischen Erlebnissen zu begeistern. Ein Umdenken hat bereits vor einigen Jahren begonnen und scheint auf einen Höhepunkt zuzusteuern. Aber der Reihe nach!
Man würde meinen, dass sich Restaurants und ihre Küchenchefs über Auszeichnungen von Guide Michelin, Gault&Millau, Falstaff & Co eigentlich freuen müssten. Oft ist dies anfangs auch sicher der Fall, doch werden die hohen Würden mit der Zeit teils zur großen Bürde. Exzellente Bewertungen sind also nicht nur eine Auszeichnung, sondern erhöhen den Druck, der so manchem – verständlicherweise – zu viel wird. Es scheint eine nicht mehr zu stoppende Entwicklung zu sein, dass sich ein Teil der Spitzenköche von diesem System distanziert.
Die Liste namhafter und verdienter Köche, die sich von dieser Last befreien wollten, ist lang. Sie reicht vom französischen Koch Olivier Roellinger, der schon 2008 mit der Rückgabe seiner drei Michelin-Sterne überraschte, weil er sich dem Druck des Sterne-Verfahrens nicht mehr aussetzen wollte. Viele weitere haben es ihm im Laufe der Jahre nachgemacht. 2020 war es – als einst jüngster Sternekoch Deutschlands – Martin Scharff, der diesen Schritt setzte. Heuer folgte mit der Ankündigung, dass René Redzepi 2024 das berühmte Noma schließen werde, ein weiterer Paukenschlag in der Gourmet-Szene. Unmenschlichen Druck und fehlende Wirtschaftlichkeit gibt der Patron selbst als Begründung an – und das bei Menüpreisen ab 500 Euro pro Person. Immer lauter wurde auch die Kritik am Umgang mit dem Personal.
Vor diesem Hintergrund zeigt sich ein gewisser Widerspruch. Dank neuer Rankings, Branchenawards und Foodblogs werden die Auszeichnungen für Fine-Dining-Restaurants sogar mehr. Doch auch wenn diese immer noch ein Highlight im Leben eines Kochs darstellen, werden Legitimierung und Sinn immer öfter hinterfragt. Was auch mit dem Ansatz zusammenhängen könnte, den Eckart Witzigmann erst kürzlich im Branchen-Magazin CHEFS! ansprach: Genuss lässt sich in keine Hitliste packen. Wenngleich der Jahrhundertkoch im Interview auch betonte, Leuchttürme täten der Gastronomie gut und Orientierung schade nie.
Doch es ist bei weitem nicht nur die Härte des Geschäfts und das permanente Unter-Beobachtung-Stehen das Spitzenköchen den Appetit auf Sterne, Hauben und Punkte verdorben hat. Vielen Aussagen war und ist stets zu entnehmen, dass neben mehr Ruhe und Freiheit vor allem auch die Liebe zum klassischen Handwerk und damit zur Konzentration aufs Wesentliche eine große Rolle spiele. Es hat sich zweifelsohne auch die Einstellung vieler Köche selbst verändert. Man könnte sagen, dass eine neue Art von Einfachheit und Schlichtheit mit weniger erklärungsbedürftigen und allzu konzeptuellen Gerichten in den besten Küchen Einzug gehalten hat.
Wer sich mit vielem von dem, wofür die Sterneküche bisher stand, nicht mehr identifizieren kann, schlägt andere Wege ein. Spitzenköche werden immer neue Maßstäbe setzen (wollen), doch die Konzepte der Zukunft sehen definitiv anders aus. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben Auswirkungen auf die Art und Weise, wie in den besten Restaurants der Welt gekocht und gegessen wird. Immer öfter geht es auch ohne überzogene Etikette, Stichwort „Casual Fine Dining“. Das Essen und das Essengehen sollen Spaß machen – auch auf Fine-Dining-Niveau! Am Teller darf es weniger „Chichi“ sein, was nicht bedeutet, dass darunter Standards und Qualität leiden würden. Ganz klar zu beobachten ist außerdem, dass viele Köche mit globalem Einfluss ihre Rolle dazu nutzen, um die Gastronomie in Sachen Nachhaltigkeit, Ökologie und Verantwortung positiv zu beeinflussen.
Ein gutes Beispiel dafür, wohin sich die Spitzengastronomie entwickelt, ist Elena Reygadas. Sie hat die von World’s 50 Best, einem der mittlerweile einflussreichsten Rankings, verliehene Auszeichnung als Köchin des Jahres 2023 nicht abgelehnt. Doch mit oder ohne Titel, vielmehr als um die hinzugewonnene internationale Popularität geht es ihr um die Anliegen, die sie mit ihrer Art zu kochen vermittelt. Denn sie setzt nicht nur in ihrem Fine-Dining-Lokal Rosettain Mexiko-Stadt auf lokale Zutaten, sondern betreibt daneben auch weitere zwanglosere Lokale. Da wie dort kocht sie nach den Prinzipien der Saisonalität, erforscht biologische Vielfalt und legt großen Wert auf alte, handwerkliche Backtraditionen oder die Technik der langsamen Fermentation. Zu ihrer Küchenphilosophie gehört es ebenso, traditionelle Gerichte und die vielfältigen Kulturen in den Mittelpunkt zu stellen. Alles in allem steht Elena Reygadas für eine moderne, aber nicht übertriebene Küche. Darüber hinaus ist ihr Geschlechterparität in Restaurants wichtig, weshalb sie ein Förderprogramm für angehende Köchinnen initiiert hat. Ohne Zweifel sehen darin viele ein stimmiges Gesamtkonzept.
Gerne möchte man dem zukunftsweisenden Titel der Doku „She Chef“ Glauben schenken, dass insbesondere auch die gehobene Küche weiblicher wird. Es ist aber kein Geheimnis, dass die Spitzengastronomie derzeit noch eine Männerdomäne ist. Zwar steigt die Anzahl der Küchenchefinnen auf den Top-Plätzen diverser Restaurantrankings stetig, wie auch Elena Reygadas und andere Vorreiterinnen beweisen, gleichzeitig ist hier aber noch viel Luft nach oben.
Eine, die ebenfalls auf dem besten Weg zur Spitzenköchin ist und es von Beginn an anders gemacht hat, ist Agnes Karrasch. Klar, sie kann auf eine Ausbildung im Steirereck in Wien und auf den Titel als „Team-Kochweltmeisterin 2018“ verweisen. Dass sie sich für „She Chef“ aber gleich in drei absoluten Top-Restaurants Europas – vom Vendôme in Bergisch Gladbach über das Disfrutar in Barcelona bis zum Koks auf den Faröer Inseln – im hektischen Kochalltag von der Kamera begleiten ließ, ist aber mehr als ungewöhnlich und durchaus unkonventionell. Es zeigt aber den Mut und die Ambitionen der neuen Generation, offener und kritischer mit jenen Themen umzugehen, die auch die Spitzengastronomie immer wieder in Verruf bringen: Arbeitsklima, Machtmissbrauch, Genderfragen. Wer derart offenherzig Einblicke in die anstrengende Welt der Sterneküche gibt, hat vermutlich noch so einiges vor. Ihre persönliche Definition von Sterneküche zeigt schon mal, in welche Richtung es gehen kann. Denn wie sie heuer im Rahmen zahlreicher Interviews rund um den Kinostart verriet, ist „Sterneküche eine Chance, nachhaltig zu arbeiten, seltene, alte Produkte zu schützen und vor allem unfassbar kreativ und ausgefallen zu arbeiten“.