Gastrokonzept

Masse mit Klasse

 

Wie sieht moderne und qualitätsvolle Gemeinschaftsverpflegung im Jahr 2021 aus? Wir durften in drei Großküchen blicken und haben dort Köche kennengelernt, die uns diese Frage sehr unterschiedlich und dennoch ganz ähnlich beantwortet haben. Alle drei sind hervorragende Einkäufer, legen Wert auf ein gutes Team, fördern den Nachwuchs, sind ehrgeizig und empathisch. Das führt dazu, dass die Gerichte, die ihre Küchen verlassen – und das sind bis zu 3.000 Portionen täglich – nicht nur köstlich schmecken, sondern auch den Prinzipien Bio, Regionalität, Clean Eating und Frische entsprechen.

Schicken wir eines voraus: Diese Geschichte handelt von drei Köchen, die allesamt ihre Wurzeln in der gehobenen Gastronomie haben. Sie erkochten Hauben oder Sterne und arbeiteten in Spitzenrestaurants auf der ganzen Welt, wie bei Plachutta in Wien, bei Dieter Müller in Bergisch Gladbach, in Neuseeland und in Schweden. Sie waren Privatkoch, selbstständig oder in angesehenen Hotelkonzernen oder bei Airline-Caterings tätig. Bis zum Zeitpunkt ihres Einstellungsgespräches hätte sich keiner von ihnen vorstellen können, in die Gemeinschaftsverpflegung zu wechseln. Und doch hat sie an der Vorstellung, in einer Großküche zu arbeiten, etwas gereizt. Vor allem ihr eigener Anspruch, die Neugierde und der Ehrgeiz, mit einem Klischee aufzuräumen: dass Qualität in der Gemeinschaftsverpflegung nicht möglich sei. Seither beweisen sie tagtäglich das Gegenteil.

 

730.000 Portionen pro Jahr

So etwa Johannes Haindl, Küchenleiter im Landesklinikum Wiener Neustadt, der seine Auszeichnungen und Zertifikate schon gar nicht mehr zählt. Sie zieren seine Wände, manche sind auch nur auf der Festplatte seines PCs gespeichert, unweit jener Datei, die er seit 2010 regelmäßig füttert: Mit Tausenden von Rezepten, an denen er, wie er selbst sagt, „mit sehr viel Disziplin“ gearbeitet hat. Sie bilden die Grundlage dafür, dass seine 82 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter täglich rund 2.000 Portionen in zwei Schichten zubereiten. Und das an 365 Tagen im Jahr. 880 Betten beherbergt das Landes­klinikum Wiener Neustadt, die Patienten haben völlig unterschiedliche Bedürfnisse. Diese ergeben sich aus dem Grund für ihre Krankenhaus­aufenthalt, aus Alter, Ernährungs­gewohnheiten und Konfession; sie bevorzugen vegetarisch oder vegan, bekommen Diätkostformen oder Vollkost. Zwischen 45 und 55 Menüs werden täglich zubereitet, darunter auch jene für den großen Betriebs­kindergarten, für das Krankenhaus­personal und für „Essen auf Rädern“, das in die Umlandgemeinden ausgeliefert wird.

Freiwillig mehr „bio“

Bei Johannes Haindl laufen alle Fäden zusammen: Er erstellt die Sommer-, Winter- und 6-Wochen-Pläne, er übernimmt den strategischen Einkauf und die Abstimmung der Menüs mit dem Diätologen. Qualitätsmanagement ist sein höchster Anspruch. Der niederösterreichische Landtag gibt vor, dass zumindest 25 Prozent des Budgets des Gesamteinkaufs für Bio-Produkte ausgegeben werden muss. Unter Johannes Haindls Ägide liegt der Prozentsatz bei rund 28 Prozent im Jahresschnitt: „Bio-Produkte werden oft durch die Menge gerechtfertigt. Hier muss man schauen, bei welchen Produkten und Mengen die Spanne zwischen konventionell und bio nicht zu groß ist. Die größten Anteile unserer Bio-Produkte entfallen auf die Milch aus dem Waldviertel, das heimische Rindfleisch sowie Obst und Gemüse aus der Region. Wir arbeiten mit den Bauern aus der Buckligen Welt zusammen und beziehen von dort Kartoffeln, Knoblauch, aber auch das gute Leindotteröl, für das Niederösterreich bekannt ist.“ Steht auf dem Speiseplan etwa ein „Tafelspitz vom Bio-Rind aus der Wechselregion mit Petersilkartoffeln“, ist jede einzelne Zutat biologisch – bis hin zu den Kräutern und Gewürzen. Die Bio-Äpfel kommen aus der Steiermark und sie bereichern eben nur von Oktober bis März den Speiseplan. „Weil man mit dem Fokus auf Regionalität zugleich saisonal gebunden ist“, erklärt Johannes Haindl, der auch auf eine akkurate Trennung des Lagers zwischen bio und konventionell zu achten hat.

 
 

Frischer Einkauf spart Geld

„Der Frische Einkauf ist bei uns sicherlich einer der wichtigsten Faktoren: Schon ab drei bis vier Personen machen Fertiggerichte oder Convenience keinen Sinn mehr. Umso wichtiger werden das Handwerk des Kochens und jeder einzelne Mitarbeiter, der dieses Handwerk versteht.“ Das ist auch ein Grund, warum Johannes Haindl vier bis fünf Lehrlinge ausbildet: „Der Nachwuchs ist enorm wichtig. Es gilt, das Bewusstsein zu schärfen, sich weiterzubilden und wirklich fachmännische Arbeit zu leisten.“ Johannes Haindl hat nicht nur Köche, sondern auch einen Fleischhauer, einen Konditor und einen Bäcker im Team: Sogar das Brot wird also auch selbst gebacken. Nicht selten kommt es vor, dass nach ein Patient nach seiner Entlassung anruft und nachfragt, wo er die guten Zutaten kaufen kann. Johannes Haindl gibt dann gerne Auskunft und freut sich, vermitteln zu können: „Gutes Essen ist ein wichtiger Beitrag zur Genesung. Wer im Krankenhaus liegt, freut sich nicht auf die nächste Untersuchung, sondern aufs Essen. Es ist mein Anspruch, dass diese Vorfreude nicht enttäuscht wird.“

 
 

Prinzip „Clean Eating“

Vorfreude aufs Essen, die kennt auch Christian Kindl, der in Kreuzlingen am Bodensee als Küchenmeister tägig ist. Nicht von ungefähr trägt das Mitarbeiterrestaurant der Holy Fashion Group den Namen „HOME“. Essen soll hier wie Nachhausekommen schmecken. Das umso mehr, als die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weitgereist sind und sich mit dem Arbeitsplatz in Kreuzlingen bewusst gegen eine trendige Fashion-Metropole auf der Welt entschieden haben. „Für unsere Gäste bedeutet Essen Lifestyle und das Gesundheitsbewusstsein ist in den Köpfen stark verankert“, so Christian Kindl, der mit seinem vierköpfigen Team von Montag bis Freitag durchschnittlich 135 bis 165 Essen nach dem Prinzip des Clean Eating zubereitet. „Unsere Richtlinien der Essenzubereitung sind für die Belegschaft im Intranet nachzulesen. Die Wochenpläne werden jeweils freitags freigeschaltet und jedes Gericht wird in einem double check mit einer Mitarbeiterin in Sachen Nähr- und Inhaltsstoffe freigegeben“, so der gebürtige Österreicher, der seit zehn Jahren bei dem Modehersteller tätig ist. „Die Philosophie unserer Unternehmensführung ist es, der Belegschaft ein hochwertiges Mitarbeiterrestaurant zu bieten: Jeder kann sich darauf verlassen, dass er nur allerbeste Zutaten zu sich nimmt.“ Der Erfolg war gleich in den ersten Jahren durchschlagend: Die Anzahl der Mittagsgäste hat sich binnen kürzester Zeit verdoppelt.

 

"Für unsere Gästebedeutet Essen Lifestyle und das Gesundheitsbewusstsein ist in den Köpfen stark verankert."

Christian Kindl, Küchenmeister Holy Fashion Group
 

Gerichte aus drei Bausteinen

Jedes Menü im „HOME“ besteht aus den drei Bausteinen Fisch bzw. Fleisch, einer vegetarischen Komponente und einer gesunden Sättigungsbeilage. So hat jeder Gast die Möglichkeit, sein Gericht ganz individuell zusammenzustellen: Suppe und Salat gibt es extra, ein Dessert auch, Obst sowieso. Manchmal darf es aber auch echtes Seelenfutter sein: Dann zaubert Christian Kindl Burger, Currywurst, Wiener Schnitzel und Pommes. „Wer im Job 120 Prozent gibt, für den soll Essen zugleich Entspannung und Geschmackserlebnis sein. Die Wertschätzung der eigenen Mitarbeiter spiegelt sich in der Verpflegung wider“, sagt der Küchenchef, unter dessen Führung das „HOME“ als einziges Mitarbeiterrestaurant der Schweiz 2018 mit dem begehrten Gütesiegel „Goût Mieux“ ausgezeichnet wurde. „Vor dreißig Jahren noch hatte die Gemeinschaftsverpflegung einen anderen Ruf. Ich bin sehr froh und glücklich darüber, dass wir hier im Unternehmen so früh den Trends des Marktes gefolgt sind. Denn das ist es, was einen kreativen Koch befriedigt.“

 
 

À la Carte in der Altenpflege

Mit diesen Worten spricht Christian Kindl auch dem Küchenmeister und Leiter der Wirtschaftsbetriebe der Vereinten Martin Luther Stiftung in Hanau, Hermann Allmeritter, aus dem Herzen. Der ehemalige Spitzenkoch, der die Gemeinschaftsverpflegung als Arbeitsplatz erst einmal rigoros ausgeschlossen hatte, fand hier letztendlich seine Berufung: „Das Problem in der Gemeinschaftsverpflegung sind leider nach wie vor Köche, die einfach nur noch ihre letzten Berufsjahre abarbeiten. Ich habe den Anspruch, dass unsere Bewohner und Gäste – in unseren Altenheimen ebenso wie in unseren Restaurants oder bei Events – merken, dass wir acht sehr gute Köche im Team sind. Das Schönste für einen Koch muss doch sein, wenn er das Feedback erhält, dass es den Leuten richtig gut geschmeckt hat.“ Sein Anspruch ist es, tagtäglich eine ehrliche, abwechslungsreiche Küche mit frischen, regionalen und saisonalen Produkten umzusetzen, weil „Essen im Alter mehr Lebensqualität bedeutet als je zuvor“.

 
 

Alles ganz natürlich

Beim Prinzip des Clean Eating werden deklarations­pflichtige, industriell verarbeitete Lebens­mittel so weit wie möglich vermieden: Verkocht werden unveränderte, natürliche Produkte, die frei von Zusatz­stoffen, Farb- oder Geschmacks­stoffen, Allergenen, künstlichen Süßstoffen oder Geschmacks­verstärkern sind. Dafür setzt Christian Kindl auf hochwertige Öle, Ursalz, Kokosblütenzucker, Gewürze und Kräuter. Mindestes 51 Prozent aller Zutaten sind biologisch, viele davon stammen aus dem Kanton Thurgau. Das meiste ist regional, aber nicht alles. „Gerade Obst spielt in unserem Unternehmen eine große Rolle: Es steht jedem jederzeit zur freien Verfügung. Da müssen wir auch auf Bio-Obst aus Übersee zurückgreifen, wobei wir hier – um die CO₂-Emmissionen so gering wie möglich zu halten – Produkte bevorzugen, die per Schiff nach Europa kommen“, erklärt Christian Kindl.

 

Revolutionäre Konzepte

Hermann Allmeritter hat sich mit seiner Empathie direkt in die Herzen der Bewohner gekocht: Er holte die Ausbildung zum Fachwirt in Seniorenverpflegung nach und begleitete ein Jahr lang einen Wohnbereich, um auf den Etagen und in den Zimmern zu sehen, wie es den alten Menschen mit und beim Essen geht. Daraus sind Konzepte mit durchschlagendem Erfolg entstanden. So hat er begonnen, die 6-Wochen-Pläne mit den Bewohnern abzustimmen. Und siehe da? Der Herr, der sonst immer nur wenige Bissen zu sich nahm, putzte gleich drei Teller seines Lieblingsgerichtes aus der Kindheit weg. Zweimal pro Monat wird direkt im Wohnbereich gekocht: Da kommen dann die hausgemachten Frikadellen mit Röstzwiebeln und Spiegelei auf den Tisch, die in der Großküche sonst nicht zubereitet werden dürfen. Es wurden kleinere Portionen eingeführt, weil ältere Menschen mit vollen Tellern oft überfordert sind. Speisen werden erst am Tisch püriert, damit vorher noch das frisch zubereitete Gericht begutachtet werden kann. Viele Kräuter und Zutaten stammen aus dem Kräutergarten, der von den Lehrlingen betreut wird, die regelmäßig bei Wettbewerben die besten Plätze belegen. Hermann Allmeritter ist Ausbildner des Jahres.

Transparenz und Ehrlichkeit gehen dem Küchenmeister über alles: So hat er es geschafft, dass Menschen mit Kaubeschwerden 80 Prozent des allgemeinen Speiseplans zu sich nehmen können, einfach indem er Zutaten austauscht: Etwa zähe Brötchen gegen weiche Haferflocken. Die in Deutschland gesetzlich vorgeschriebene Standzeit von maximal drei Stunden für Gerichte wird in den Küchen der Vereinten Martin Luther Stiftung auf eine Stunde begrenzt: der Nährstoffe willen! Der Erfolg all dieser Maßnahmen ließ nicht lange auf sich warten: Waren die Bewohner anfangs nahezu aggressiv, wenn sie einen der Köche zu sehen bekamen, werden diese, seit Hermann Allmeritter im Haus ist, freudig begrüßt. Abgesehen davon konnten bei einigen Bewohnern sogar Medikamente abgesetzt werden, weil sie wieder regelmäßig essen.

 

"Das Schönste für einen Koch muss doch sein, wenn er das Feedback erhält, dass es den Leuten richtig gut geschmeckt hat."

Hermann Allmeritter, Küchenmeister und Leiter der Wirtschaftsbetriebe der vereinten Martin Luther Stiftung
 

Ausgeklügelte Logistik

Insgesamt sind es rund 2 000 Portionen täglich, die Hermann Allmeritter mit 45 Mitarbeitern in sechs dezentralen Küchen zubereitet. Wie das möglich ist? Durch eine ausgeklügelte Logistik. Alle Küchen werden täglich mit frischer Ware beliefert – dazu wurden eigene Rollies angeschafft. Bei Arbeitsbeginn um 6.30 Uhr steht alles in genau der Reihenfolge bereit, die es für diesen Tag braucht. So schafft man es beispielsweise, in der Früh 3 000 Gries-Quark-Klößchen von Hand zuzubereiten und mittags mit Vanillesoße und frischen Erdbeeren zu servieren. In derselben Zeit werden in der eigenen Konditorei Kuchen und Torten gebacken. Und noch das Dessert zubereitet, für das die Lehrlinge den Waldmeister von Hand gesammelt haben. Der Honig stammt von Bienen, die Allmeritters Sohn Marcel, der ebenfalls als Koch in der Vereinten Martin Luther Stiftung tätig ist, als Imker betreut. Die Bauern in der Umgebung kennt man persönlich und für einen flexiblen Speiseplan steht ein Tagesbudget zur Verfügung. „Oft ist es so, dass die Ernte sehr üppig ausfällt und dringend Abnehmer dafür gesucht werden. Das bekommen wir dann zu einem guten Preis“, erläutert Hermann Allmeritter. „Viele Köche kennen ihr Budget leider oft gar nicht und die meisten sind viel zu sehr von der Industrie abhängig. Unsere erste Wahl ist immer der Lieferant in der Nähe.“ Auf die letzte Frage, wie denn Masse mit Klasse zu erreichen ist, überlegt Hermann Allmeritter nicht lange. „Man muss es leben“, sagt er. „Vielleicht muss man auch ein wenig verrückt sein. Vor allem aber muss man es umsetzen wollen.“

Das Interview führte Franziska Lipp

Copyright Fotos: Holy Fashion Group, Landeskliniken Niederösterreich, Martin Luther Stiftung