COVID-19 brach wie ein Tsunami über die Welt herein und erschütterte unser gewohntes soziales Leben in seinen Grundfesten. Gastronomie und Hotellerie waren wie kaum eine andere Branche betroffen. Wir haben exklusiv mit der renommierten Ernährungswissenschafterin Hanni Rützler über die Corona-Krise und deren Auswirkungen auf das Gästeverhalten, über neue Trends, kreative Lösungen und zukunftsfähige Chancen für Gastgeber gesprochen.
Frau Rützler, wenn wir Sie Anfang des Jahres nach den aktuellen Foodtrends befragt hätten, worüber hätten wir dann gesprochen?
Mit Sicherheit hätte ich Ihnen im Januar den Themenbereich Snackification ans Herz gelegt. Die Destrukturierung unseres Alltags durch Corona hat diesen Trend jedoch deutlich eingebremst, auch wenn er wieder kommen wird. Snackification ergibt sich durch unsere moderne Arbeitswelt und die damit geforderte Spontaneität. In der Corona-Krise war das genau andersherum: Essen erhielt eine stabilisierende und zeitstrukturierende Funktion. Plötzlich saßen Tausende Menschen im Home Office und es wurde wieder gekocht. Das bedeutete für viele eine neue Lebensqualität, die sie genossen haben.
Heißt das für Gastronomen, dass sie nach Corona einen anderen Gast vor sich haben?
Ja, und das in mehrfacher Hinsicht. Für viele Teile der Gesellschaft sind es aktuell wirtschaftlich schwierige Zeiten. Der Gast wird bewusster wählen, weil er nicht mehr über die gewohnten finanziellen Spielräume verfügt wie vor der Krise. Zum anderen sind viele Menschen durch die neue Erfahrung des Selberkochens und Do-it-Yourself sensibler für Produkte, Frische und Qualität geworden.
Werden diese neu gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse der Menschen nachhaltig sein?
Es zeichnet sich die Tendenz ab, dass es kein Zurück in die alte Normalität gibt. Die Corona-Pandemie war und ist eine weltweite Erfahrung, die uns alle sensibilisiert hat. Wir haben gespürt, wie wichtig soziale Kontakte sind. Viele haben zum ersten Mal gekocht. Suchanfragen im Internet, wie man Kartoffeln oder Nudeln zubereitet, gingen durch die Decke. Aber auch zeitaufwändige Connaisseur-Techniken wie etwa das Fermentieren sind bekannter geworden. Kann man als Gastronom mit einem seiner Köche Workshops und Kochkurse anbieten, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt dafür.
Die Gastronomie war eine der am schlimmsten betroffenen Branchen. Wie haben Gastronomen die Krise im Idealfall gemeistert?
Die Gastronomie war vor Corona vor allem durch schnelles Denken, schnelles Agieren und schnelle Lösungen geprägt. Der erzwungene Lockdown ist im Idealfall als Chance genutzt worden, um sein eigenes Profil noch einmal zu klären und zu schärfen: Man überlegte sich, was man wirklich will. Was einen als Gastronom antreibt. Was man gut kann und wohin man möchte.
Wie sieht die Zukunft der Gastronomie nach Corona aus?
Alle, die austauschbar sind und sich allein über den Preis vergleichen, werden sich zukünftig schwertun. Ich empfehle Gastronomen, sich auf ihre Kernkompetenzen zu konzentrieren, Schwerpunkte zu setzen, sich kreativ weiterzuentwickeln und neu zu erfinden. Take-away oder Lieferservices können sinnvolle Optionen sein, aber nicht alles passt zu jedem Konzept. Eventuell braucht es auch unorthodoxe Lösungen, etwa die Kooperation zwischen Gastronomen unterschiedlicher Niveaus und Lagen: Man sollte sich anschauen, wie man in der eigenen Region Netzwerke spannen, kooperieren und sich spezialisieren kann, um in der neuen Realität zu bestehen.
Das Thema Regionalität hat bereits während der Krise enorm geboomt. Geht das so weiter?
Unbedingt und hier gibt es bislang noch viel zu wenige erfolgreiche Initiativen. In Kalifornien etwa ist die Zusammenarbeit zwischen Landwirtschaft und Hotellerie bzw. Gastronomie – zum Teil sogar mit kleineren Fast Food Unternehmen – bereits viel effektiver. Auch wir brauchen stärkere Kooperationsnetzwerke. Und die Landwirtschaft steht mit dem Klimawandel auch vor neuen Herausforderungen: Gastronomen und Bauern könnten hier gemeinsam zu besseren Lösungen kommen. Dazu braucht es Netzwerke, mehr Flexibilität und eine eingespielte Kommunikation. Wer schon mit regionalen Produkten arbeitet, sollte seine Philosophie für Gäste auch sichtbar machen: etwa auf dem Weg in den Gastraum. Regionalität ist ein starkes Sehnsuchtsthema, das sowohl Einheimische als auch Touristen anspricht.
Welcher Foodtrend wurde durch die Corona-Krise verschärft?
Ein sehr spannender Trend ist jener der Ghost-Kitchen. Es handelt sich dabei in extremer Form um Küchen, die ausschließlich zur Auslieferung kochen. Es gibt keine Sitzplätze, kein Take-away, nur Lieferservice. So können Ghost-Kitchen etwa von Lieferservice-Unternehmen betrieben werden: Es werden jedoch entweder Gerichte nach Rezepturen real existierender Restaurants zubereitet oder aber es werden Räumlichkeiten an Gastronomen verpachtet, um die Restaurantküche zu entlasten. Diese neuen Food-Delivery-Plattformen sind das „Netflix der Gastronomie“. Vor allem in der städtischen Nahversorgung hat das Thema Potenzial, um den Markt neu aufzumischen. Die traditionelle Gastronomie muss darauf kreative Antworten finden. Auch diese können in Netzwerken und kooperativen Synergien mit anderen Restaurants liegen.
Essen auf Abstand wurde durch Corona zum großen Thema. Gibt es hier kreative Lösungen?
Es ist ein urmenschliches Bedürfnis, nach draußen zu gehen, sich zu zeigen und sich auszutauschen. Immer nur zuhause zu essen, greift zu kurz. Gerade in der Krise haben wir gespürt, wie schön es ist, Essen mit anderen zu teilen. Aber natürlich bleibt das Thema Abstand und das ist für Gastronomen mit viel Arbeit und Aufwand verbunden. Inszenierungen in der Natur haben an Bedeutung gewonnen und können etwa durch Picknickkörbe oder Plätze im Garten umgesetzt werden. Der Wohlfühlaspekt ist ganz zentral, Sicherheit ein unverzichtbares Must-have für Gäste. Hier braucht es noch viel mehr Phantasie. Plexiglas-Trennwände greifen da zu kurz, aber windfreie Nischen mit einer Feuerschale oder sonstigen Wärmequellen könnten neue Spielräume schaffen. Auch unorthodoxe Möglichkeiten bieten sich an: Warum nicht das Thermalwasser in den Alpen nutzen, um ganz unkonventionell neue Räume zu schaffen und zu heizen? Vor allem die Kommunen sind da gefordert, Genehmigungen für Tische im öffentlichen Raum unbürokratischer zu erteilen.
Welche Rolle spielt die Gastfreundschaft in oder nach solchen Krisen?
Gastfreundschaft ist im wahrsten Sinne des Wortes ein äußerst mächtiges Tool. Gastfreundschaft kann aber nur gelebt werden, wenn es ein gut funktionierendes Team gibt. Wenn alle im Team wertgeschätzt werden, wird auch der Gast wertgeschätzt. Gerade in Krisenzeiten gelangen starre Strukturen schnell an ihre Grenzen: Es geht darum, beweglicher zu werden, Kommunikation im Team zuzulassen, gut zu führen und zu motivieren. Teamgeist ist die Basis für Gastfreundschaft.
Spießt sich der Wunsch nach persönlichem Kontakt mit der zunehmenden Digitalisierung?
Nein, im Gegenteil: Denn es geht darum, die Qualitätszeit vor Ort zu erhöhen und alles andere elektronisch auszulagern. Gastronomen sollten sich sehr genau anschauen, wo der persönliche Kontakt zum Gast gewinnbringend und lustvoll ist. Neue Bestellsysteme oder innovative Abrechnungsmethoden können die Qualitätszeit vor Ort erhöhen. In dieser geht es um den bewussten, persönlichen Kontakt: Jeder Mensch möchte wahrgenommen werden. Dieses Gefühl hat man nicht, wenn die Servicekraft am Tisch steht und immer nur in ihren tragbaren Computer schaut, während sie mit einem spricht. Kurz: Die Digitalisierung kann Voraussetzungen für eine neue Qualität in zwischenmenschlichen Begegnungen schaffen. Das geht aber nur, wenn man sie richtig einsetzt.
Wie bleibt man als Gastronom auch in Krisenzeiten mit seinen Gästen in Kontakt?
Eine offensive Kommunikation ist unerlässlich: Wir haben in der Krise gesehen, wie gut etwa Home-Videos von Haubenköchen angekommen sind. Mein Rat: Bleiben Sie in Kontakt mit den Gästen, teilen Sie Informationen, nutzen Sie die neuen Medien.
Was würden Sie Gastronomen in Zeiten wie diesen raten?
Mutig zu sein und offen zu bleiben! Starke Visionen zu entwickeln, um zu wissen, wohin man möchte. Visionen helfen, sich krisenfest und resilient aufzustellen. Mit viel Frust und Angst aus der Krise zu kommen, ist keine Lösung. Man sollte sich die möglichen Optionen – vom Take-away über regionale Netzwerke bis hin zu Ghost-Kitchen-Konzepten – anschauen, sich ganz klar auf das ein oder andere fokussieren und die neuen Bedürfnisse und Erfahrungen der Gäste dabei mitdenken.
Das Interview führte Franziska Lipp
Copyright Fotos Hanni Rützler: Wolfgang Reiter, Nicole Heiling
Hanni Rützler ist eine der führenden Foodtrend-Forscher Europas sowie Gründerin und Leiterin des futurefoodstudios mit Sitz in Wien. In ihren Studien zur Zukunft der Ernährung sowie ihrem jährlich erscheinenden Foodreport spürt die Ernährungswissenschafterin und Gesundheitspsychologin dem Wandel der Konsumkultur nach und versteht es, nachhaltige Foodtrends von kurzfristigen Moden und Medien-Hypes zu unterscheiden.